Begegnung mit Raphael
vom 18. bis 20. Mai 2007 – im Kloster Höchst im Odenwald
Rückschau einer Teilnehmerin
Anlass und Thema des Seminars war das im Vorjahr erschienene Buch von Patanjali, , aus dem Sanskrit übersetzt und kommentiert von Raphael.
Während der drei Seminartage ist Raphael das ganze Buch Kapitel für Kapitel, Schritt für Schritt mit uns Teilnehmenden »durchgegangen«. Auf seine einzigartige, ruhige und bescheidene Art, aus einer unfassbaren, mit Worten unbeschreibbaren Tiefe und Stille heraus. Grund für den tiefen, lichtvollen »Raum«, in dem diese gemeinsame Arbeit das Wochenende über stattfand, war – neben Raphaels einzigartiger Präsenz unberührter Stille – nicht zuletzt wohl auch, dass die Teilnehmenden bereits Monate vorher damit begonnen hatten, das Yogadarsana-Buch zu lesen, damit zu arbeiten, zu meditieren, zu praktizieren. Ich selber war an diesem Wochenende verblüfft über und sehr dankbar für die Einfachheit von Raphaels klaren und gut verständlichen Darlegungen, für diesen reichen Schatz an immer sofort einleuchtenden - und vor allem ganz praktischen - Hinweisen. Damit hat Raphael uns dieses anspruchsvolle Buch, den komplexen Stoff (im wahrsten Sinne des Wortes) näher gebracht.
Bei unserer letzten gemeinsamen Begegnung am Sonntagmittag forderte Raphael die weit über 100 Teilnehmenden auf, dass wir, dass einer/eine von uns zusammenfasst, was Inhalt und Botschaft des Wochenendes war. Obwohl ganz offensichtlich alle während der drei Tage mit höchster Konzentration seinen Worten und Weisungen (die oft auch unbestreitbar jenseits aller Worte lagen) gefolgt waren, meldete sich nun niemand, um diese Aufgabe zu übernehmen. Ich selber habe in dem Moment vergeblich versucht, auf die Schnelle eine Struktur, einen roten Faden in der Fülle an Erkenntnissen, dem Schatz an größeren und kleineren »Aha-Erlebnissen« aus diesen drei Tagen zu finden. Und habe für mich in dem Moment beschlossen, dieses innere »Sortieren«, ein Zusammenfassen der drei Tage mit Raphael zuhause nachzuholen: Dieser Text orientiert sich an dem, was ich während drei Tage mitgeschrieben hatte, gefärbt natürlich durch meinen persönlichen »Wahrnehmungs-Filter«. Ich hoffe trotzdem, einen "gerechten" Eindruck von den Inhalten und der Stimmung/Schwingung des Seminars zu übermitteln.
Raphael hat mit dem 5. Sutra des ersten Kapitels (S. 27) begonnen: Gedankenwellen (im Yogadarsana so genannte »Modifikationen des Verstandes« oder »vrtti«) können harmlos sein oder schädlich. Letzteres hängt nicht von dem äußeren Ereignis ab, denn manchmal meistern wir schwierige Situationen wirklich gut und gelassen, ein anderes Mal stresst uns plötzlich eine Kleinigkeit. So wird deutlich: es geht nicht um die äußeren Ereignisse, sondern um unsere Reaktionen darauf. Sobald wir das begreifen, ist es unmöglich, weiterhin die Verantwortung auf äußere Umstände zu schieben. Die Ursache der Gedankenwellen ist »Nicht-Unterscheidung«, d.h., es besteht keine Unterscheidung zwischen dem, was ich bin und dem, was ich glaube zu sein.
Da wir alle diese Gedankenwellen lange Zeit einfach haben »laufen lassen«, haben sie sich 'verfestigt', eine Art Eigenleben entwickelt. Dennoch können wir sie auflösen, aber nur mit konstanter Übung (Sutra 12, S. 29). Raphael betont, dass es für eine »intelligente« sadhana (spirituelle Praktik) unabdingbar ist zu wissen, wie die vrtii entstehen und wie sich die drei guna (Eigenschaften, qualitative Prinzipien der Ursubstanz) bewegen.
Der individuelle Verstand (manas) macht sich immer sofort alles, was er sieht »zu eigen«, begehrt etwas oder lehnt es ab: Das ist das Problem. Wichtig ist, den Purusa (derjenige, der beobachtet, ohne sich an der Handlung zu beteiligen) mehr aufzuwecken; das zu erwecken, was wir wirklich sind. Wir sind nicht unsere vrtti, unsere Gedankenwellen, die ständig in Bewegung sind. Es geht darum, diese Bewegungen schrittweise zu bremsen. Irgendwann tritt dann eine völlige Abwesenheit von Gedankenbewegungen ein. Dann enthüllt sich der Purusa in seinem wahren Sein. Dieser Zustand, das sind wir. Wir haben unsere wahre Natur überlagert mit etwas Illusorischem. Dieses können wir auflösen, während wir die wahre, absolute Natur nie verändern könn(t)en.
Wichtig ist, konstant zu üben und hartnäckig zu sein: Das ist, was uns oft fehlt. Wie oft auf seinen Seminaren verweist Raphael auf das (sehr hilfreiche!) Bild/ Beispiel eines Balles: Der Ball (der Gedanke) rollt weiter und weiter, solange wir ihn immer wieder neu anstoßen. Lässt du ihn aber einfach in Ruhe, rollt er nur noch eine Weile weiter und hält dann irgendwann ganz von alleine an.
Dieses Bild hilft (mir immer wieder) zu erinnern, dass »da draußen« nichts ist, was ich verantwortlich machen kann. Alle Unruhe, jede Gedankenwelle erzeugt das manas selber. Raphael betont: es reicht nicht, dies theoretisch zu verstehen! Man muss es erleben, erfahren, immer wieder bewusst in die Beobachterposition gehen. Selbst dann entstehen immer noch sich wiederholende Gedankenwellen und bewegen sich weiter. Aber du beobachtest sie »nur" noch, gibst ihnen keine Wichtigkeit mehr und irgendwann hören sie dann (wie im Bild mit dem Ball) auf. »Es ist wirklich ganz einfach!« sagt Raphael, »aber Ihr müsst es selber tun, ich kann es Euch nicht geben, selbst wenn ich wollte. Es ist im Grunde alles ganz einfach!«
Und in der Tat: Hier, jetzt, bei Raphael sitzend (und das Seminar hat gerade erst begonnen!) ist (mir) plötzlich 'alles' völlig klar. Es liegt auf der Hand: der Weg, was zu tun ist, ist mir so deutlich, so »offen«! Die Erkenntnis schien mir in dem Moment (auf einer »Ebene«, die jenseits der Worte, jenseits meines Denkens liegt) »zum Greifen« nah!
Bevor Raphael mit den Erklärungen zum 2. Kapitel beginnt, betont er, dass es entscheidend ist, dass die vorherigen Sutren des 1. Kapitels wirklich geübt und realisiert wurden. Wenn man diese Sutren wirklich praktiziert, werden alle klesa (Spannungen, Bedrücktsein) abgeschwächt (und aufgelöst), weil sie nicht ewig, nicht die Wahrheit sind. Die Ursache allen Konfliktes ist, sich selber vergessen zu haben. Avidya bedeutet dabei nicht Unwissenheit, wie wir sie normalerweise im Alltag definieren, sondern das Vergessen unserer wahren Natur.
Wenn man die vorher besprochenen Schritte umsetzt, wächst Unterscheidungsvermögen. Dieses hilft zu begreifen bzw. zu unterscheiden zwischen dem was IST, was nicht »wird«, und den Formen und Bildern, die kommen und gehen. Um die Avidya aufzulösen, braucht es Erkenntnis oder Hingabe an Isvara (Gott). Das Yogadarsana verweist auch auf den Bhaktiyoga, den Yoga der Hingabe, den Weg der Liebe. Jede/r sollte den Weg wählen, der ihm/ ihr am besten entspricht.
Es ist wichtig, Patanjali bzw. dem Yogadarsana Schritt für Schritt, `anga` (d.h. Mittel oder Element einer Disziplin) für `anga` zu folgen. Erst wenn man ein Mittel wirklich befolgt und praktisch beherrscht, ist man bereit für das jeweils nächste. Man kann dabei die Fortschritte nicht mit dem Willen erzwingen, nur durch behutsame Praxis in kleinen Schritten, die die Psyche nicht irritieren, und keinen Widerstand in uns erzeugen. Es geht nicht darum, dass man von heute auf morgen alles ändern muss! Es gibt ein 'Gesetz des Rhythmus', das man beachten sollte. »Und«, betont Raphael, »akzeptiere, wenn du auf dem Yogaweg auch manchmal etwas machst, was du eigentlich nicht machen solltest oder wollest! Setz dich nicht zu stark unter Druck! Geh nicht mit übermäßigem Zwang an die Sache! Geh mit Intelligenz vor! Geh den Mittelweg, und der ist für jeden anders.« Jeder Mensch merkt selber: Wo beginnt für mich der Zwang? Das ist sehr individuell.
Das 3. Kapitel des Yogadarsana behandelt die drei letzten Mittel: Konzentration (dharana), Meditation (dhyana) und die verlängerte, vertiefte Meditation, den samadhi. Dharana ist nicht schwierig, wenn alle vorhergehenden Aspekte verstanden und praktisch verwirklicht worden sind. Andernfalls jedoch ist es nicht einfach, sich auf einen Punkt, einen so genannten 'Meditations-Samen' zu konzentrieren. Erst bei ständiger Konzentration auf einen Samen, wenn sich beispielsweise jemand 30 bis 45 Minuten auf einen Punkt konzentriert ohne abzuschweifen, erst dann kann man sagen, dieser »Jemand« meditiert.
Statt vieler Gedanken, die hin- und herspringen, haben wir in der Meditation nur noch einen Gedanken: Wir sind auf den Samen ausgerichtet. Wir meditieren in einem Zustand ohne Wunsch, ohne Absicht, ohne Ziel: »unschuldig«. Diese Art der Meditation ist wichtig, weil man so sattva-Eigenschaften (wie Harmonie, Licht, Übereinstimmung mit der reinen Existenz) entwickeln kann.
Beispielweise kann man universelle Liebe als Meditationssamen wählen oder bestimmte Tugenden in sich anrufen, wie innere Ruhe. Dann müssen wir nicht länger 'kämpfen', um den Verstand zu beherrschen. Denn mit den vorhergehenden Mitteln haben wir die Fähigkeit erlangt, eine Meditation hervorzurufen, die sehr tief geht. Meditationen haben verschiedene Tiefegrade und die Beherrschung der Meditation führt zum samadhi.
An diesem Punkt ist das Bewusstsein so erweitert, dass man die Einheit des Lebens ist – sie nicht denkt, sondern sie ist. Dann gibt es keine Erfahrungen mehr, z.B. kein Gespür für den Körper. Es geht dabei nicht um irgendwelche sinnlichen Erfahrungen. Da gibt es nichts Persönliches mehr. Die Einheit des Lebens kann nicht sinnlich erfahren werden. Die Einheit des Lebens ist Essenz, und die ist in uns allen gleich, und genauso auch gleich in jedem Baum, in jedem Tier. Die Essenz, die immer da war, wartet darauf, wiederentdeckt und ausgedrückt zu werden.
An dieser Stelle forderte Raphael uns auf: »Versucht es jetzt einmal, einfach so, mental, Euch als diese Essenz vorzustellen, nicht als diese Form. … Da gibt es keinen Unterschied zwischen Raphael und Euch. Wir sind Brüder und Schwestern in der Essenz.«
Für mich persönlich war dieser kurze, kostbare Augenblick, als wir Teilnehmer alle gemeinsam (in Raphaels Präsenz) diesem Ratschlag für einen Moment (so gut es uns gelang) folgten, der eindrücklichste und stärkste Moment des ganzen Wochenendes. Der Zustand, in dem sich Vielheit in Einheit auflöst, sogar zur Essenz eines Baumes besteht kein Unterschied. »Lasst uns diesen Zustand verwirklichen!«
Solange Bewusstsein das Bewusstsein von etwas ist, z.B. das Bewusstsein von Angst oder Freude, zeigt das, dass guna im Spiel sind. Es gibt aber ein reines Bewusstsein, das ist wie ein reiner Kristall (ein Bild von Patanjali), der durch nichts mehr gefärbt ist. Auf dieser Ebene hat sich das manas in die buddhi aufgelöst, Emotionen in universale Liebe. Die buddhi vermittelt Erkenntnis auf direkte Weise. Diese Er-Kenntnis braucht keine guna mehr, damit man sich ihr bewusst wird.
Raphael: »Patanjali bzw. das Yogadarsana gibt dir die Mittel – nun tue es! Wenn du akzeptierst, was im Yogadarsana steht, musst du dich nur noch hinsetzen und üben. Mach dir nicht so viele Gedanken – praktiziere diese Mittel! Darum geht es! In uns besteht die Möglichkeit, die Stille zu realisieren.« Denn all das muss praktisch verwirklicht werden. Dazu braucht man Geduld und die Einsicht, dass die Dinge, die wir wollen, nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen sind. Sonst ist Stille oft nur eine sich zwanghaft »auferlegte« Stille. Es ist keine echte Stille, solange das manas ständig Gedankenwellen erzeugt.
Meditation sollte man als Anfänger mit Samen praktizieren, später dann ohne Samen: die totale Stille. Im 3. Kapitel werden diese beiden Arten behandelt. Solange dem Verstand ein Inhalt gefällt, können wir uns stundenlang konzentrieren. Beispielsweise, wenn wir ein spannendes Buch lesen oder uns stundenlang ärgern, weil uns jemand beleidigt hat. Wenn der Samen dem manas, den guna aber nicht gefällt, klappt es nicht mit der Konzentration. Man setzt sich hin, um über die universale Liebe zu meditieren und plötzlich tut der Rücken weh, oder eine unglückliche Liebe aus Teenager-Tagen fällt uns wieder ein. Raphael: »Die guna sind ein schlechter Herr, wenn sie sich selber überlassen werden, aber ein guter Diener, wenn du sie umerziehst.«
Raphael erläutert die Wirkung von Gedanken: Ein Gedanke der Liebe beispielsweise verbindet sich mit weiteren Gedanken der Liebe von Anderen, potenziert sich auf diese Weise, und kehrt dann auch zu uns zurück. Jesus sagte (s. S.88): »Liebet eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, … (Matthäus 5, 44-45).« Wenn ein Feind schlecht über mich denkt, und ich dann auch schlecht über ihn denke, verbinden sich meine negativen Gedanken mit seinen. Dadurch werde ich immer mehr mit ihm verbunden. Obwohl ich ihn am liebsten gar nicht mehr sehen oder treffen möchte, ziehen sich unsere guna – ziehen wir uns an.
Deshalb ist es wichtig, stattdessen eine Gegenkraft zu bilden/zu entwickeln. Um eine solche Wirkung zu neutralisieren, muss man eine gleich starke Gegenkraft mobilisieren. »Wenn man durch schädliche Gedanken gestört wird, kultiviert man entgegengesetzte Gedanken (S. 87: Sutra 33).« Wenn wir diesen Gesetzen folgen, entsteht ein Gleichgewicht und so schaffe ich die Trennung /Ablösung von meinem Gegner.
Das 3. Kapitel des Yogadarsana (und Raphael im Seminar) behandelt u.a. die siddhi, phänomenale Kräfte, manchmal auch Wunder genannt. Diese »Spiele« führen jedoch nicht zur Verwirklichung. Unser Gedankenfluss ist nicht kontinuierlich (vgl. S. 138 ff.), sondern hat Zwischenräume, wie ein Film, der aus einer Bildsequenz besteht. Was man nicht merkt, wenn der Film »normal läuft«, wohl aber, sobald man ihn langsamer laufen lässt. »Daher sollten wir lernen, schrittweise die 'Bewegung' in uns zu verlangsamen, so weit, bis sie sich auf die Einheit eines Augenblicks, auf den kleinsten Teil des Ereignisses, reduziert. Dann können wir sie annullieren, denn die maya – Bewegung, Zeit und Raum – kann durch die Stille oder die vollkommene Unbewegtheit des Bewusstseins annulliert und transzendiert werden (S. 141 f.).«
Auf die Frage eines Teilnehmers hin erläutert Raphael, wie er im Seminar »arbeitet". Dass er nicht gekommen sei, um lediglich Worte mit uns auszutauschen. Die Gespräche dienen dazu, die Teilnehmer zu stimulieren, damit sie anschließend mit stärkerer Kraft in die Praxis kommen. Damit dies aber gelingt, ist Konzentration notwendig. Wenn - während Raphael spricht – das Gegenüber schon wieder an anderes denkt, kommen die 'Anregungen' nicht an. Am besten ist es/ am meisten kommt an, wenn der Verstand still und offen ist. »Wenn die prakrti (Natur, die "aktive und ausführende Energie") still ist, klar wie ein Kristall, kann die Information über die Stimme direkt in Euch dringen.« Ja zweifellos, hier geschieht etwas »jenseits« all der Worte: Um mich ist es weit und hell und leicht.
Der empirische Verstand (manas) kann begreifen, was ‚vor' ihm ist, aber nicht etwas, was 'hinter' ihm ist bzw. ‚jenseits'. Wenn man das verstanden hat, erledigen sich viele (manas-) Fragen. Es geht weniger darum zu verstehen, als einfach zu sein. Liebe beispielsweise ist undefinierbar, man muss nicht darüber nachdenken oder spekulieren (denn das bleiben dann alles Konzepte). Die Liebe ist!