Begegnung mit Raphael

»Der Mensch braucht eine Lehre,
die ihm hilft, seine wahre Natur zu enthüllen.«

Einen ersten Eindruck seiner Bewusstseinsposition vermitteln Raphaels Antworten auf Fragen, die ihm im Laufe der Zeit immer wieder gestellt werden. Sie offenbaren seine Liebe, und sein allumfassendes Verständnis und verdeutlichen seine meisterhafte Kenntnis der überlieferten Lehren auf metaphysischer Ebene.
Es ist, wie Platon sagt, eine »Anschauung des Ganzen«, die Raphael in Begriffen seltenster Klarheit auszudrücken vermag. Die Art und Weise seiner Gesprächsführung erinnert an Ramana Maharshi und Nisargadatta.

? Wer sind Sie?
Raphael: Ich bin der du bist.

? Darf ich Ihr Alter erfahren?
Raphael: Ich habe keinen Begriff von Zeit.

? Haben Sie die überlieferte Erkenntnis in Indien erworben?
Raphael: Die Erkenntnis hängt weder von Raum noch Zeit ab.

? Halten Sie sich für einen Wiedererweckten?
Raphael: Das Ich hält sich für Diesen oder Jenen. Wenn das Ich verschwindet, verschwindet auch jedes Problem des Unterscheidens und der Eigenschaften.

? Wer ist denn dann Raphael?
Raphael: Raphael ist die Essenz der Lehre.

? Aber wer ist dieses Individuum, das mir gegenübersitzt?
Raphael: Das, was Sie mit Ihrem Sinnesorgan Auge sehen, ist in Wirklichkeit die Lehre.

? Was ist der Feuerweg?
Raphael: Die Kunst, sich selbst zu entdecken.

? Worauf gründet dieser Feuerweg?
Raphael: Auf der Erkenntnis der Überlieferung.

? Haben Sie diese Art von Erkenntnis erfunden?
Raphael: Die überlieferte Erkenntnis ist die Wirklichkeit.

? Hat Raphael einen Guru gehabt?
Raphael: Natürlich.

? Können Sie mir den Namen Ihres Guru nennen?
Raphael: Das ist der Punkt: Name und Form; immer wieder wird danach gesucht. Oft verlieren wir dabei die Wirklichkeit: Brahman aus den Augen.

? Können Sie mir den Weg weisen, um den inneren Führer zu suchen?
Raphael: Sie brauchen nur zu lernen, nach innen zu schauen. Sie brauchen sich nur selbst zu befragen. Sie müssen sich einfach als atman wiedererkennen.

? Wie kann ich die Erkenntnis wachrufen?
Raphael: Ich könnte Sie fragen, wie Sie es gemacht haben, die Unwissenheit wachzurufen? Kann es sein, dass sich Ihre Natur, Ihr wahres Wesen, dagegen sträubt, sich zu enthüllen? Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist es Ihr Ich, das nicht verstanden und nicht gelernt hat, sich selbst zu fragen.

? Wenn mein Ich aber voll Unwissenheit ist, wie kann es mir dann eine definitive Antwort geben?
Raphael: Wir sind auf dem richtigen Weg. Das Ich ist Unwissenheit, der atman ist Erkenntnis. Sie müssen also diesen atman finden. Der atman ist Sein, Intelligenz, Vollkommenheit.

? Wie finde ich den atman? Wie Sie sehen, stellt sich diese Frage immer wieder.
Raphael: Indem Sie für die Unwissenheit sterben. Und wie stellen Sie es an, für die Unwissenheit zu sterben, wenn die Unwissenheit andauernd schwätzt und sich dabei in den Schwanz beißt? Vom Ich, das unwissend ist, kann die richtige Antwort nicht kommen. Was ist zu tun, wenn man stillstehen will, während man weitergeht?

? Man muss stillstehen, stehenbleiben, nicht mehr weitergehen.
Raphael: Sehr gut. Warum bleiben Sie also nicht stehen? Warum nageln Sie Ihre mentale Unwissenheit nicht in die Stille?

Es folgen Antworten über den Advaita Vedanta. Mit äußerster Klarheit legt Raphael die Eckpfeiler der metaphysischen Lehre der Nicht-Dualität dar und unterstreicht dabei ihre Bedeutung und Aktualität für die heutige Menschheit.

? Könnten Sie zusammenfassend sagen, was die Essenz des Advaita Vedanta ist?
Raphael: Die gesamte Advaita-Lehre ist in diesem »einfachen« Satz enthalten: »Brahman ist das einzig Wirkliche, die Welt ist nicht-wirklich, und Das bist Du (Tat Tvam Asi).« Aber solange ein westlicher Verstand diese Wahrheit in ihrer wahren Tragweite noch nicht verstehen kann, ist es glaube ich besser, sie mit anderen Worten auszudrücken: Für den Advaita Vedanta muss die Wirklichkeit konstant, für sich selbst identisch und beweisbar, unteilbar, unendlich und außerhalb von Zeit-Raum-Kausalität sein. Er untersucht das Wirkliche auf jedem Koordinatensystem, vom individuellen bis hin zum universalen.

? Brahman ist die einzige Wirklichkeit – ist der Rest also Illusion?
Raphael: Wir sollten die Frage anders stellen: Wenn Brahman die einzige Wirklichkeit ist, was ist dann das, was wir sehen und wahrnehmen? Der Vedanta sagt, dass es die maya ist, die bewirkt, dass wir, um den bekannten und tiefgründigen Vergleich von Sankara anzuführen, das Seil mit der Schlange verwechseln.

? Nach dem Vedanta ist das, was uns gefangennimmt, die avidya oder Unwissenheit. Können Sie uns erklären, um welche Unwissenheit es sich handelt?
Raphael: Mit dem Begriff avidya bezeichnet der Advaita Vedanta nicht die Unwissenheit, die Bildung und Gelehrsamkeit betrifft, sondern die Unwissenheit metaphysischer Ordnung; diejenige, die sich auf die Wirklichkeit oder das Noumenon, beziehungsweise auf die Natur des Seins bezieht. Sie ist der »individuelle« Aspekt der universalen, kosmischen Unwissenheit oder maya.

? Kann die avidya als wirklich und dauerhaft betrachtet werden?
Raphael: Wenn sie wirklich und absolut wäre, könnten wir sie nie beseitigen. Wir wären gezwungen, unvollkommend und unwissend zu bleiben. Wir befänden uns für immer und ausweglos im Irrtum.

? Welche Bedeutung kann diese uralte Lehre für den Menschen des »dritten Jahrtausends« haben?
Raphael: Diese Lehre ist so alt, weil sie mit dem Sein selbst entstanden ist. Und weil sie mit dem Sein selbst entstanden ist, das heißt, weil sie aus Ihm stammt, lebt sie unaufhörlich im Sein weiter. So bleibt sie stets aktuell und ist für den Menschen des »dritten Jahrtausends« nicht nur geeignet, sondern sogar wichtig und notwendig.

? Welche Vorteile hat diese Lehre für den Menschen des »dritten Jahrtausends«?
Raphael: Wir haben gesagt, dass sie essenziell und notwendig ist, da der Mensch im Laufe der Jahrhunderte eigentlich nur ein wirkliches Bedürfnis hatte: sich selbst zu erkennen. Die alten Griechen wussten dies ganz genau, als sie sagten: »Erkenne dich selbst, dann wirst du das Universum und Gott erkennen.« Der Mensch brauchte stets eine Lehre der qualitativen Synthese, die ihm sagen kann, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. Der Mensch benötigt eine Lehre, die ihm hilft, seine wahre Natur zu enthüllen, die identisch ist mit dem Göttlichen: das Tat Tvam Asi des Vedanta.

Der Mensch des »dritten Jahrtausends« hat also zwei Möglichkeiten: die der Selbstzerstörung, wenn er weiter dem Weg des Anhäufens, Besitzens, Gewaltätigseins und des Zerstörens folgt (alles unter der Herrschaft der Unwissenheit), oder die Möglichkeit der Harmonie und Schönheit, wenn es ihm gelingt, sich um 180 Grad zu drehen und all seine Energien und Fähigkeiten auf diese Entdeckung seiner selbst umzuorientieren. So kann er zu einer Kooperation mit allen Bereichen der Natur gelangen und allmählich würdevollere Lebensbedingungen schaffen, damit »die Götter wieder unter den Menschen wandeln können«. All das ist möglich - auch wenn es schwierig ist. Mehr noch: Es ist die wahre Bestimmung des menschlichen Wesens.

? In Ihren Büchern und auch in anderen Zusammenhängen erwähnen Sie die »Philosophie des Seins«. Ist dies eine andere Lehre als der Advaita Vedanta, von dem Sie bisher gesprochen haben?
Raphael: Der Advaita Vedanta ist ein Zweig der Philosophie des Seins oder Philosophia perennis, der immerwährenden Philosophie, die universale Wahrheiten umfasst, auf die weder ein Volk noch eine Epoche Anspruch erheben können. Die Philosophie des Seins entspringt dem Prinzip und erstreckt sich bis auf das menschliche Wesen. Sie ist daher jenseits von politischen Parteien, religiösem Sektentum und kulturell-wissenschaftlichen Vereinigungen. Außerdem steht sie jenseits von jedem egoistischen Interesse eines Individuums, einer Nation oder einer Rasse.

? Kann diese Philosophie des Seins, die von den Prinzipien handelt, auch in der veränderlichen Welt angewandt werden? Kann sie den psycho-spirituellen Ansprüchen des Individuums sowie den kontingenten, materiellen Anforderungen einer Sozialpolitik gerecht werden?
Raphael: Das Individuum hat die Wahl zwischen zwei Wegen: dem der Philosophie des Seins und dem der Philosophie des Werdens. Die Philosophie des Seins umreißt das Individuum in seiner Ganzheit und zeigt, wie man sich selbst finden kann; sie verweist auf einen Weg, der zur Verwirklichung führen kann. Die Philosophie des Werdens zeigt, wie man konsumieren, sich nach außen wenden und vom eigenen atman entfernen kann. Das Resultat sind Betäubung und Flucht, die vorherrschend sind in der Gesellschaft des Werdens.
»So bewege ich mich auf die Leere zu, und nicht auf das Leben.« Das ist der Punkt. Die Philosophie des Werdens führt - abgesehen davon, dass sie Kämpfe, Widersprüche und Unterschiede erzeugt, - in einen traumatischen Nihilismus. Die Philosophie des Seins strebt hingegen nach Harmonie mit sich selbst, mit der eigenen Spezies und der gesamten Natur.