Rezensionen

Vivekacudamani

Auszüge der Buchbesprechung von M. Schwarz
im Oktober 2004

»Sankara lädt nicht ein, über Brahman zu sprechen, sondern Brahman zu verwirklichen.«
(Raphael, S.144)

René Guénon gibt in seiner »Einführung in das Studium der Hindu-Doktrinen« eine für den westlichen Leser in theoretischer Hinsicht optimalen Überblick über den Vedânta, den er dann in einem eigenen Buch Der Mensch und sein Werden nach dem Vedânta zum Grundstein seiner eigenen »Doktrin« erweiterte. »Mit dem Vedânta finden wir uns im Bereich der reinen Metaphysik, (...) es ist weder eine Philosophie noch eine Religion, obwohl die Orientalisten entschlossen zu sein scheinen, entweder das eine oder das andere in ihm zu sehen, oder sogar beides zur gleichen Zeit, wie es Schopenhauer getan hat.« (Guénon, S. 276) ...

So gründlich und klar René Guénon auch die Lehre des Vedânta dargelegt hat, so sind doch die Hinweise auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der praktischen Verwirklichung von ihm sehr knapp, vermutlich in Einklang mit seiner traditionsgemäßen Auffassung, dass für diesen Weg ohnehin ein persönlicher Lehrer, ein Guru, unumgänglich ist.

Ein solcher Lehrer des Advaita Vedânta nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis ist Raphael (auf dessen Bhagavadgita-Kommentar wir bereits ausführlicher eingegangen sind: siehe »...durch das Feuer der Erkenntnis gereinigt...« Ein neuer Gita Kommentar.) Seine immer auf die Verwirklichung hinzielende Übersetzung und Kommentierung des bekanntesten Werks des Advaita-Vedânta, des Vivekacûdâmani von Sankara (788-820) ist nun in deutscher Übersetzung erschienen. Wenn die Übersetzung auch manchmal kompliziert erscheint – was immerhin den Vorteil bildet, dass jeder Satz zum Nachdenken anregt – , so hat dieses Werk doch gegenüber den bereits erhältlichen Übersetzungen den unübertroffenen Vorteil, dass sie von einem erfolgreichen Praktiker der Doktrin stammt, der auch viel Erfahrung in der Betreuung von Schülern hat.

Sankaras Text selbst gibt alle notwendigen Informationen, die zur Erlangung der »Befreiung« von der Unwissenheit, der Raum-Zeit-Gebundenheit und damit des Leidens notwendig sind. Er gibt Aufschluss über die notwendigen Voraussetzungen (Persönliche Anstrengung und Guru), er lehrt das Wissen über die verschiedenen körperlichen und mentalen Hüllen und gibt Anweisungen für die praktischen Schritte.

Raphaels Kommentare zielen immer darauf ab, den Leser davon abzuhalten, die »Erkenntnis« (als Tat) dadurch zu vermeiden oder zu verfehlen, daß der Inhalt als bloßes Wissen abgespeichert wird. »Der Besitz eines philosophischen oder metaphysischen Begriffs ist eine Sache, ihn als Gewahrsein zu verwirklichen, ist wahrlich etwas ganz anderes. Zwischen diesen beiden: dem Besitz einer einfachen Kenntnis und der Verwirklichung jener Kenntnis, verläuft der Abgrund, ein tiefer Abgrund... ohne Stützen.« (Raphael, S.144)

Dennoch können wir hier nur nach dem metaphysischen Begriff fragen und müssen unsere Leser auf das Buch verweisen und darüber hinaus auf eine durchaus mögliche Kontaktaufnahme mit Raphael. (Raphael gab Ende Oktober 2004 ein Seminar zu diesem Buch in Deutschland)

Dieser metaphysische Begriff ist »Advaita« - Nicht-Dualität oder Nicht-Zweiheit. Die Welt des Werdens, der Manifestation, zu verlassen, um sich dem reinen Sein zuzuwenden, ist das Bestreben vieler Suchender nach Befreiung. Als Hindernis erweist sich zumeist noch die Differenz zwischen Werden und Sein selbst, die Suche nach einer Welt des Seins hinter dieser Welt des Werdens und der Erscheinungen. Das Gefängnis dieses dualistischen Denkens gilt es jedoch zu überwinden, da dieses Streben nach Befreiung sonst selbst immer nur Werden bleiben wird. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass die Welt bereits in diesem Brahman genannten höchsten Zustand eingelassen ist, dies muss nur erkannt werden. Wie gerade betont: nicht gewusst - wissen tun das alle, die sich mit echter »Esoterik« beschäftigen - , sondern tatsächlich verwirklichend erkannt.

Brahman »ist« nicht nur kein Seiendes (Innerweltliches), sondern auch kein Sein, denn es »ist« als höchstes Prinzip ohne Bestimmung – und zu sein oder nicht zu sein ist die erste aller Bestimmungen – , Guénon nennt dies die »metaphysische Null«, die in sich alle potentiellen Manifestationen (Welten) enthält. Nichts kann außerhalb Brahman sein: ».. es kann nichts wirklich außerhalb Brahmans sein, denn eine solche Annahme würde gleichbedeutend damit sein, es zu begrenzen; daraus folgt unmittelbar, daß die Welt, das Wort in seinem weitest möglichen Sinn genommen, nicht von Brahman unterschieden ist, oder zumindest von ihm nur in illusorischer Weise unterschieden wird.« (Guénon, S. 281)

Andererseits ist Brahman von der Welt absolut unterschieden, denn keine der Eigenschaften der Welt trifft auf Brahman zu, die gesamte Fülle der Manifestationen ist nichts gegenüber seiner Unendlichkeit. »...diese Unumkehrbarkeit des Verhältnisses beinhaltet eine formale Verurteilung des 'Pantheismus' wie des 'Immanentismus'." (S. 281)

Aber für gewöhnlich wird die Abwesenheit von religiöser Devotion und Tröstung auf dem Weg der Verwirklichung auch eine Gefahr sein, eine Prüfung, die es auszuhalten gilt. So sagt Raphael: »Solch eine außergewöhnlich seltene Metaphysik oder Verwirklichung können wir nur begreifen, wenn wir die richtige Bewusstseinsposition einnehmen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass der Advaita Vedânta keine Religion ist, die unsicheren und ängstlichen Individuen sinnlichen Genuss und emotionale Beruhigung schenkt. Der Advaita ist reine, tiefgründige Metaphysik, die es wagt, dem menschlichen Denken jede Art von Stützen zu entziehen. Diese Metaphysik beginnt da, wo die extremsten idealistischen Systeme des Westens enden.« (S.241)

So schwer der Advaita-Weg auch ist, so leicht ist er doch zugleich, finden wir doch alle Voraussetzungen dafür in uns selbst, dem Selbst (atman). Kein Ort und keine Zeit kann uns daran hindern, zu verwirklichen, was wir selbst schon sind: reines Sein, reines Bewusstsein, reine Glückseligkeit; es genügt die Unwissenheit davon abzulegen und das ist gleichbedeutend damit, den auf die Relativität der Erscheinungen abgerichteten Verstand (und die mit ihm verknüpften Gefühle) zum Schweigen zu bringen.