Der Ashram – eine Schmiede der Befreiung

Der Ashram ist eine Schmiede der Befreiung, ein großer Athanor, in dem die Schüler das Feuer der energetischen Transformation erfahren können.

Asrama bedeutet Lebensstadium und nach der indischen Überlieferung gibt es vier dieser Lebensabschnitte: brahmacarin (Student), grhastha (Familienoberhaupt), vanaprastha (Einsiedler) und samnyasin (derjenige, der der Welt völlig entsagt). Der Ashram ist ein Ort, an dem spirituell Suchende gemeinsam mit einem Lehrer danach streben, diese Lebensstadien praktisch zu verwirklichen.

Nicht alle können einem Ashram angehören, weil nicht alle bereit oder in der Lage sind, die Lehre praktisch zu leben. Die grundlegenden Voraussetzungen oder Qualifikationen eines Aspiranten, der an die Tore eines Ashram klopft, sind:

»Die erste [Voraussetzung] ist ein intensives Streben nach Befreiung. Es muss so stark sein, dass es die gesamte Psyche in Mitleidenschaft zieht. Wenn sich das Feuer des Strebens richtig entwickelt, wird jedes Hindernis ohne Schwierigkeit verbrannt. Die Verwirklichung gewährt sich dem, der sie zu lieben weiß. Der Asparsayoga ist nicht für Schwache, Lauwarme oder solche, die sich psychische Kräfte oder missionarische Tugenden aneignen wollen. Wenn brennendes Verlangen nach ganzheitlicher Auflösung der existentiellen Fragen auf allen Ebenen und Graden besteht, ist die Bereitschaft da, den Weg ohne Rückkehr zu gehen.

Die zweite Qualifikation besteht in der Fähigkeit, sich in sich selbst zurückziehen und dabei auf geeignete Weise innerlich sammeln zu können, um für weitere Möglichkeiten empfänglich zu werden.

Die dritte verlangt Mut, taub all dem gegenüber zu sein, was die Welt und die Gesellschaft an moralischen, literarischen, politischen usw. Gewohnheiten zu bieten hat. Später kann man in diesen Bereich zurückkehren, aber dann mit verändertem Bewusstsein.

Die vierte Voraussetzung ist der Drang nachzuforschen. Er ist gekennzeichnet durch ein mentales Unterscheiden zwischen dem, was wirklich und nicht-wirklich ist und das beinhaltet ein Streben nach Erkenntnis.

Als fünfte Qualifikation wird Wahrhaftigkeit verlangt.

Darüber hinaus wäre es gut, sich keine Gedanken um die Zeit zu machen und nicht zu erwarten, dass sich die Verwirklichung nach vorgefassten, gefühlsbetonten Vorstellungen ereignet. Außerdem sollte man die eigene kulturell-gesellschaftliche Bildung nicht überbewerten.«
(Siehe Raphael, Tat Tvam Asi – Das bist Du,)

Ein Ashram ist eine wohltätige Kraft im gesellschaftlichen Kontext und lenkt seine Wirkung vor allem auf das einzelne Individuum. Wenn wir darin übereinstimmen, dass die Gesellschaft aus mehreren Individuen besteht, müssen wir einsehen, dass eine Verbesserung der Gesellschaft nur durch eine radikale Bewusstseinsumformung der einzelnen Individuen erreicht werden kann. Eine Gesellschaft reflektiert stets die Bewusstseinsstufe ihrer einzelnen Mitglieder.

Die geeignetste, wirksamste und größte Umformung, die der Mensch vollziehen kann, ist jene in seinem eigenen Inneren. Es gibt keine höhere Ethik als die harmonische Transformation des eigenen Bewusstseins, die Verwirklichung der eigenen Essenz, die Befreiung von allen konfliktgeladenen Unvollkommenheiten. Das ist die wahre und einzige Pflicht (dharma) des Menschen auf dieser Erde.

Ein Ashram kann auch ein energetisierter Magnet sein, der für eine bestimmte Aufgabe (dharma) zur Verfügung steht. Ein Ashram entsteht nicht aus einem »Wunsch« heraus; nicht der Wunsch oder der Ehrgeiz ist es, mit dem man auf der spirituellen Ebene arbeiten kann. Ein Ashram im wahren Sinn des Wortes entsteht, nachdem eine bestimmte spirituelle energetische Sättigung erreicht worden ist, die sich auf physischer Ebene niederschlägt.

Ein Ashram kann wahrhaftig einen gewissen Einfluss ausüben und daher zum Übermittler bestimmter Energien werden, wenn er durch die Schwingungskraft eines Lehrers entsteht und durch Schüler, die nach und nach diese Schwingung in sich aufnehmen.

Wenn man das profane Leben der metaphysischen Unwissenheit (avidya) wirklich verlassen möchte, sollte man wissen, dass im Ashram alles zu heiliger Handlung wird: die Lebensart, die Denk- und Verhaltensweise, die Beziehungen untereinander und so weiter.

Damit der Ashram zu einer Schmiede der Transfiguration werden kann, ist es erforderlich, alle »Kräfte« zum richtigen Siedepunkt zu bringen, der dann das große Ereignis heranreifen lässt. Das verlangt tiefe Stille, große Achtsamkeit, Demut und das Nicht-Zerstreuen bzw. Bündeln der Energien.

Der Ashram steht mit keiner philosophischen Richtung, keiner Gruppe und keinem Individuum in Widerspruch, selbst wenn diese sich mit anderen oder gar gegensätzlichen Thematiken beschäftigen. Er steht nicht einmal in Widerspruch zum »Bösen«, sondern enthüllt einfach die Lehre, die Erkenntnis, die universale Liebe und die psychologische und formale Zusammensetzung des Wesens.

Die Metaphysisk der Überlieferung vereint alle erdenklichen Gesichtspunkte, die von Individuen ausgedrückt werden können und geht dabei über diese Gesichtspunkte hinaus.

Manch einer versucht, hier und da ein bisschen mitzunehmen, um dann eine eigene Theorie oder Lehre zu präsentieren. Es gibt nichts Schlimmeres, als Konzepte, Doktrinen und Lehren zu vermischen, die ihren präzisen Aufbau und ihre räumliche Niederlassung haben. Das Vermischen von Aspekten der christlichen, buddhistischen, islamischen und von anderen Lehren bedeutet, ihre Funktion, ihre Natur und ihren Zweck zu verändern. So eine Art von Synkretismus führt zwangsläufig zu Verwirrung und Unverständnis.

Darüber hinaus sind die »Annäherungsweisen« an die Wirklichkeit zahlreich: Der eine geht von philosophischen, der andere von gefühlsbetonten, wieder ein anderer geht von Aspekten des Willens aus und ein anderer von denen der Wissenschaft. All diese Aspekte können geltend gemacht werden, solange sie mit Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit und Enthusiasmus ausgedrückt werden und nicht behauptet wird, sie seien die einzig wahren.

Die Anschauung des Ashrams ist so weitgefächert, weil sie die metaphysische Perspektive einnimmt, die den Vorzug besitzt, zu verstehen und jedes Ding an seinen richtigen Platz zu stellen. Die vielen Zustände des Seins lösen sich, wenn man außerhalb von Zeit-Raum ist, in dem einen und unteilbaren Sein auf. Wer die Einheit in der »Welt der Namen und der Formen« finden will, irrt, und dieser Irrtum kann zu einem ausgedehnten Synkretismus führen.

Der Ashram repräsentiert daher nicht die »Fusion« traditioneller Formen, sondern die Einheit auf der Ebene des Prinzips und der Essenz. Wenn alle Gruppen erkennen würden, dass es nur ein Prinzip gibt, das auf verschiedene Weise ausgedrückt kann, bräuchten sie nicht mehr gegeneinander zu kämpfen und könnten sich – jede ihrer jeweiligen Form folgend - im universalen Prinzip wiedervereinen.