Rezensionen

Bhagavadgita
Gesang des Glückseligen

Auszüge der Buchbesprechung von M. Schwarz

TEIL 1

»Als der König Duryodhana das Heer der Pandava in Aufstellung sah, näherte er sich seinem Meister und sprach: Oh Meister, sieh diese mächtige Armee der Pandu-Söhne, die vom Sohn des Drupada, deinem weisen Schüler, formiert worden ist. (...) Unsere Armee, unter dem Kommando von Bhisma, scheint schwach, während ihre von Bhima geführte stark zu sein scheint. Bleibt deshalb standhaft, während ihr die euch zugewiesenen Stellungen einnehmt, und kämpft für Bhisma. Um den Kampfgeist zu wecken, blies dann der Älteste der Kuru, der mächtige Ahnherr, so kraftvoll in sein Horn, dass es wie Löwengebrüll erschallte. (...) Und der König von Kasi, bester Bogenschütze, und Sikhandi, großer Wagenlenker, Dhrstadyumna, Virata und Satyaki, der Unbesiegbare, Drupada und die Söhne der Draupadi, alle zusammen, oh Herr der Erde, und Subhadras Sohn mit den starken Armen, von allen Seiten bliesen sie in ihre Muscheln. Der Klang, dessen Getöse auf der Erde und im Himmel widerhallte, zerriss das Herz der Söhne des Dhrtarastra.«

Vor der Kulisse des Aufmarsches zweier gigantischer Heere im Norden Indiens (vor 5.000 Jahren) erfährt der Feldherr Arjuna, der im Angesicht seiner Verwandten in den gegnerischen Schlachtreihen an seiner Kriegerpflicht verzweifelt, eine Belehrung nicht nur über sein Dharma als Ksatriya, sondern über seine Stellung in der Gesamtheit des ungeteilten Seinsgefüges, durch Krisna, der in der Gestalt eines blinden Wagenlenkers erscheint.

Ein neuer Gita-Kommentar
Diese Belehrung, ein Lehrgedicht, ist der Hauptteil der Bhagavadgita, Bestandteil eines noch monumentaleren Epos, des Mahabharata. In ihr findet sich die Quintessenz der indischen Weltsicht, von den Lehren des Samkhya bis zu den Grundrichtungen des Yoga, sind die verschiedenen Entfaltungen der arisch-vedischen Überlieferung meisterhaft knapp dargelegt. Das Problem für den westlich-modernen Leser liegt weniger in der Einfühlung in die Weltsichten der unterschiedlichen Abschnitte, als darin, dass sie alle Gültigkeit beanspruchen, obwohl sie sich zu widersprechen scheinen: Personale Götter, der unpersönliche Gott, der verkörperte Gott (Avatara), stehen ebenso nebeneinander wie die Wege der vollkommenen Entsagung und der Verwirklichung in der Handlung, der Erlösung durch Erkenntnis, Hingabe oder Tat. Die Bhagavadgita wird aufgrund der ihr innewohnenden Schwierigkeiten daher zumeist mit Kommentar veröffentlicht und gelesen. Vorausgesetzt der Kommentator ist nicht selber verwirrt und kann einen festen Standpunkt einnehmen, so hängt sehr viel von der Haltung des Kommentators ab.

Ausgangspunkt für meine Darstellung ist die jüngst erschienene Übersetzung und Kommentierung durch »Raphael« (1). Raphael ist einer der bedeutendsten Vertreter der Advaita-Philosophie in Europa. Er lebt als Schweigender bei Rom, aber um ihn hat sich der Ashram Vidya gebildet, der sicher für ernsthaft spirituell Suchende eine erste Anlaufstelle ist. Über das Pseudonym Raphael ist auf einem anderen seiner Bücher zu lesen: »Raphael ist ein Pseudonym, da auf der Ebene der Dualität ein Name notwendig ist. Raphael ist ein Symbol für einen Bewusstseinszustand. Auf einer gewissen Ebene sind wir alle Raphael.«

In seinen zahlreichen Büchern beweist Raphael auch seine Kenntnisse der westlichen - hermetischen und vorsokratischen - Traditionen. Als erster Einstieg empfiehlt sich das Buch Advaita Vedanta - Der Weg der Nicht-Dualität (Bielefeld 1998). Eine Einführung in die synthetische Sicht des Yoga gibt Raphael in seinem Buch Yoga. Initiationswege zum Transzendeten (Bielefeld 1999). Raphaels gelegentliche alchemistische und kabbalistische Bezüge helfen dem abendländischen Leser auch beim Verständnis der Gita und wecken Vorfreude auf sein in Vorbereitung befindliches Buch Initiation in die Philosophie von Platon.

Raphael folgt in seinem Gita-Kommentar Shankara (2) und dementsprechend liegt sein Schwerpunkt auf der Nicht-Dualität, er interpretiert also die Teilaspekte vom Ganzen her. Vor allem aber betont er den initiatischen Aspekt der Gita. Für »Initiation« gibt es, wie Julius Evola betont, keine adäquate Übersetzung: Weihe, Einweihung hat nicht den gleichen Bedeutungsgehalt, eher wäre bei diesem Wort an eine Entsprechung zu dem weit allgemeineren Ausdruck der consecratio zu denken, als einem Begriff, der hauptsächlich der religiösen Sphäre zugehört. Etymologisch betrachtet bezeichnet ‚initiare' einen Zugang gewähren, einen neuen Anfang setzen. In diesem Bedeutungsfeld liegt auch der Begriff der »Wiedergeburt« nicht ferne, vorausgesetzt, daß ihm ein streng ontologischer Gehalt zugebilligt wird." (3)

Wir stehen notgedrungen vor einem hermeneutischen Zirkel. Ohne den Blick auf das Initiatische zu nehmen, verfehlen wir die Belehrungen Krisnas als bloße Erzählungen und Wissensanhäufung, aber die Bedeutung der Initiation enthüllt sich erst in ihrem Vollzug. Wichtig ist es, nicht vor dem Zirkel stehenzubleiben, sondern in ihn einzutreten. Evolas Bemerkungen mögen als erste Orientierung dienen. Raphael enthüllt die stufenweise Initiation des Kriegers (Ksatriya) Arjuna im Mitvollzug der Unterweisungen. Wie ein alchemistischer Kreislauf sollte dieser von dem gewonnenen höheren Verständnis jeweils neu vollzogen werden.

Weil Raphael einen höheren Anspruch stellt als viele andere Gita-Interpreten, ist die Lektüre des Werkes und des Kommentars keine einfache und unterhaltsame Beschäftigung. Die Vielschichtigkeit der Gita erlaubt und erfordert eine lebenslange Beschäftigung mit ihr. »Jedes Individuum kann die seinem Entwicklungsgrad entsprechende Bedeutung in ihr finden.«

In seinem Vorwort nennt Raphael einige Lesarten der Gita:

  1. »Die Gita kann als ein einfaches Buch über kriegerisches Handeln, das die profane Einbildungskraft anregt, betrachtet werden, oder als eine Abhandlung ethisch-religiöser Ordnung, welche die Hingabe und die Liebe der Gläubigen zu einem Avatara zu wecken sucht. Das wäre eine Art von ethisch-religiösem Evangelium.« Uns fällt beispielsweise das durchaus lesenswerte Buch von J. W. Hauer ein: Eine indo-arische Metaphysik des Kampfes und der Tat (Stuttgart 1934). Hauers eigene Übersetzungen kommen einem Kriegerbrevier – vergleichbar dem Hagakure – sehr nahe. Oftmals zitiert auch Evola in diesem Sinne Leitsätze der Gita. Dies ist jedoch die Stufe des Dualismus und des äußeren Feindes.
  2. »Die Gita kann aber noch tiefgründiger verstanden werden, nämlich als ein Werk psychologisch-esoterischer Ordnung, das der Verwirklichung dient. Aus dieser Perspektive erhält das Werk einen symbolisch-reinigenden Charakter, der nur durch die spirituelle Initiation des Schülers unter Führung eines Guru stufenweise enthüllt und anschließend verwirklicht werden kann.« Dies ist es wohl, was die Internationale Gesellschaft für Krisna-Bewußtsein anstrebt und der Kommentar von deren Guru Bhaktivedanta Swami Prabhupada vor allem im Auge hat. Nicht mehr der Krieger in seiner gesellschaftlichen Funktion soll angesprochen werden, sondern der Krieger, der jedermann im Kampf gegen die bösen Kräfte im Inneren sein muß, um die Hingabe an die Einheit zu erreichen. Die Stufe des Monismus.
  3. »Die Gita kann einen wahren und echten Initiationsprozeß in Gang setzen, der für die Ksatriya bestimmt ist, der aber gleichzeitig auch Initiationen der anderen Ordnungen einführt.« Diese Stufe der Überwindung von Dualismus und Monismus, des Advaita, ist jene der eigentlichen Initiation. Sie wird nur selten von Kommentatoren erreicht, die selber zumeist keine Verwirklichten sind. Natürlich ist dies die Ebene, der Evolas gesamtes Interesse galt.

Auch Raphael bestätigt die grundlegenden Ansichten der Schule der Tradition zum Wesen der Initiation: »So gesehen ist die Gita ein symbolisches Werk, allerdings mit einer exakten initiatischen Bedeutung und einer besonderen Lehre, die einer ganz bestimmten Gruppe von Schülern vorbehalten ist. Hier kann man präzise Abfolgen eines wirkungsvollen Werks erkennen, die mit der Initiation des Schülers ihren Höhepunkt erreichen. Vergessen wir nicht: Diese Art der Initiation gab es auch im Westen, und zwar im tiefsten Mittelalter. Sie war den Rittern und Adeligen vorbehalten, den Ksatriyas des Westens.«

Das Ziel der Initiation ist das nicht-haftende - oder nicht-bindende - Handeln, die reine Aktion. Raphael: »Wenn du die Unsterblichkeit liebst, ergreife den Blitz des richtigen Handelns und zerreiße den Zweifel, der dich bezwingt.« Um dies zu verdeutlichen, werde ich (...) Raphaels Bhagavadgita-Auffassungen näher untersuchen. Zunächst sollen aber Gita-Auszüge zur Einführung dienen, da es wenig Sinn macht, die Gita nachzuerzählen, und nicht vorausgesetzt werden kann, dass jeder Leser den Text zur Hand nimmt.

Anmerkungen:

(1) In initiatischer Hinsicht gibt es keinen deutschen Kommentar, der Raphael zur Seite gestellt werden kann. Die Übersetzung aus dem Italienischen ist gelungen. Das Werk ist einigermaßen übersichtlich - auch äußerlich -gestaltet. Der Sanskrit-Text (Transliteration) ist als Anhang angefügt, ein kleines Glossar ist hilfreich, ein Index fehlt leider.

(2) Sankara lebte von 788 bis 820 und gilt in traditioneller Sicht nicht als Schöpfer, sondern als Kodifikator des Advaita Vedanta.

(3) Julius Evola: Über das Initiatische, AAGW, Sinzheim, 1998, S.108.

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