Mandukyakarika
Jenseits von Sivas Tanz

von Gaudapada
Übersetzung aus dem Sanskrit und Kommentar von Raphael

Gaudapada erkennt, dass die letzte Wirklichkeit weder entstehen noch vergehen kann. In der Mandukyakarika erläutert er die Mandukya Upanischade, die von der heiligen Silbe OM und den vier Bewusstseinszuständen: Wachzustand, Traum, Tiefschlaf und dem absoluten vierten Zustand Turiya handelt. Er nimmt die Perspektive des Absoluten ein und folgert: »Dies ist die höchste Wirklichkeit: Es gibt weder Entstehung noch Auflösung, weder Anwärter auf die Befreiung noch Befreite oder irgendjemanden, der in Knechtschaft ist.
(Mandukyakarika II, 32)

Raphael hebt in seinem Kommentar vor allem den praktischen Aspekt dieses Werks hervor. Zur Veranschaulichung der Einheit der Überlieferung präsentiert er die verschiedenen existenziellen Ebenen und den Aufbau des menschlichen Wesens im Licht des Vedanta, des Taoismus, der Kabbala, des Buddhismus und der Philosophie von Plotin.

Ist das Sein Einheit, Dualität, Vielheit oder Nicht-Dualität? Wurde die Welt der Namen und der Formen aus dem Nichts geschaffen, hat sie sich manifestiert oder ist sie aus etwas hervorgegangen? Ist sie wirklich, nicht-wirklich oder – paradoxerweise – sowohl das eine als auch das andere? Das sind die am hitzigsten debattierten Fragen westlicher Philosophen aller Epochen – von Thales bis Pythagoras, von Platon über Plotin bis hin zur neuzeitlichen Philosophie.

Und wie äußern sich die Philosophen des Ostens? Was sagt der Advaita Vedanta, die Lehre der Nicht-Dualität?

Gaudapada, von dem man annimmt, dass er im sechsten Jahrhundert nach Christi gelebt hat, gilt als erster menschlicher Meister, der die
Advaita-Überlieferung empfangen und an seine Schüler weitervermittelt hat. Er, der die höchsten Gipfel der Verwirklichung erklommen hat, erkannte, dass die letzte Wirklichkeit weder entstehen noch vergehen kann. So enthüllte er den Menschen zum ersten Mal in größter Klarheit den Ajativada (Lehre der »Nicht-Erzeugung«) und den Asparsayoga (Yoga »ohne Stützen und ohne Beziehung«), die beide bereits in der Sruti dargelegt sind. Sankara, der im achten Jahrhundert nach Christi gelebt hat, greift die Advaita-Thematik Gaudapadas wieder auf und erläutert sie in einer bis heute unübertroffenen, scharfsinnigen Dialektik.

Diese existenziellen Zustände sind »Seinsweisen« oder Schwingungszustände, die Eigenschaften ausdrücken, und jedes Wesen befindet sich – gemäß der Eigenschaften, die es zum Ausdruck bringt – in dem entsprechenden Schwingungszustand. Die Upanischade teilt in vier Gruppen von Schwingungen ein: visva, taijasa, prajna und Turiya.

Visva ist die Ebene, auf der wir den physisch grobstofflichen Zustand erfahren. Taijasa weist auf den feinstofflichen Zustand hin, in den wir zurückkehren, wenn wir schlafen und auch wenn wir unser grobstoffliches »Kleid« ablegen, bzw. den physischen Körper verlassen. Visva und taijasa sind beide formal und durch den Dualismus von Subjekt-Objekt, Ursache-Wirkung und den individuellen Zustand charakterisiert: Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Schwingung. Im taijasa-Zustand hat das Wesen die fleischliche Hülle abgelegt, es behält aber weiterhin all seine Fähigkeiten in Hinblick auf Intellekt und Willen, Wahrnehmung und Bewusstsein.

Prajna ist der kausale keimhafte Zustand, die Essenz des Wesens. In ihm entsteht und in ihn kehrt alles zurück. In prajna kehrt die Wirkung – so wie alle anderen manifesten Polaritäten – in ihre Ursache zurück. In prajna ist das Wesen die einheitliche Synthese seiner selbst, reines Bewusstsein ohne irgendeine objekthafte Überlagerung. Prajna ist daher ein Zustand des vollständigen Nicht-Begehrens, der Abwesenheit von Problemen, der Nicht-Bewegung. Er ist reine Erkenntnis, eine Erkenntnis des letzten Subjekts und nicht mehr eine Erkenntnis der Erscheinungen oder der Objekte. Das Wesen erkennt sich in sich selbst als sich selbst. Auf dieser Ebene wird Erkenntnis zu Bewusstsein, zu einem Bewusstsein, das sich selbst enthüllt.

Während sich die Wirklichkeit in visva und taijasa in Begriffen des »Ich bin dies« ausdrückt, äußert sie sich in prajna in Begriffen des »Ich bin«. Das »dies« (als erkennbares Objekt) verschwindet. Übrig bleibt das reine Gewahrsein des Seins. Wenn sich die Wirklichkeit dann im »Ich bin Das« auflöst, kehrt das Sein als Bestimmung des Absoluten in sein eigenschaftsloses und nicht-bestimmtes Substrat (Turiya) zurück.

Diese Rückkehr erfolgt beim Wiedererwachen zum Gewahrsein des Atman. Die Befreiung ist also keine »Eroberung« oder Wirkung einer Ursache, die vorher nicht vorhanden war, weil der Zustand der Einheit (atman-Brahman) immer existent war und stets weiter existieren wird. Daher müssen wir zu dem erwachen, was wir – jenseits aller verhüllenden Überlagerungen – im tiefsten Inneren wirklich waren, jetzt sind und immer sein werden.

Gaudapadas Kommentar zur Mandukya Upanischade wurde aufgrund der großen Meisterschaft seiner Darlegung zu einem eigenständigen Werk mit dem Titel Mandukyakarika. Es gilt als eine der tiefgründigsten metaphysischen Schriften und stellt das Fundament der gesamten Advaita Vedanta-Philosophie dar.

In diesem Werk führt Gaudapada den Beweis, dass es nur eine unveränderliche, ewige, reale Wirklichkeit gibt, ohne Erzeugung und Auslöschung, ohne Ursache-Wirkung und Raum-Zeit, ohne Gegensatz und Widerspruch. Und da die Wirklichkeit konstant ist und eine vollkommene Einheit, folgert er, dass all das, was Verschiedenartigkeit, Vielfältigkeit, Unbeständigkeit und Veränderung darstellt, die letzte und höchste Wirklichkeit eben nicht ist, sondern nur eine Erscheinung oder Vorstellung, die lediglich vom Gesichtspunkt der »Meinung« als real betrachtet werden kann.

»Dies ist die höchste Wirklichkeit: Es gibt weder Entstehung noch Auflösung, weder Anwärter auf die Befreiung noch Befreite oder irgendjemanden, der in Knechtschaft ist.«
                                                                       (Mandukyakarika II, 32)
                                                                         

Raphaels Kommentar zur Mandukyakarika kann vor allem den Interessierten im Westen nützlich sein, die mit der umfangreichen hinduistischen und buddhistischen Thematik nicht vertraut sind. In direkter Anknüpfung an die beiden großen Meister Gaudapada und Shankara hebt der Autor die »praktische Umsetzung« des Werks hervor. Zur Erläuterung der Einheit der Überlieferung präsentiert Raphael mehrere Schaubilder, die Struktur und Aufbau des Wesens gemäß verschiedener Überlieferungszweige aus Ost und West, wie Vedanta, Taoismus, Kabbala, Buddhismus und Plotinische Philosophie, darstellen.

»Mich zu Boden werfend grüße ich den Meister meines Meisters, den Ehrwürdigsten unter den Ehrwürdigen, der, als er die im Ozean dieser Welt ertrunkenen Geschöpfe sah – Ozean, der von furchterregenden Haien wie Geburt und Tod wimmelt – aus Mitleid mit den Lebewesen diesen Nektar gespendet hat, den selbst die Götter schwer erlangen können und der auf dem Grund des Ozeans liegt: Es sind die Veden, die er kraft seines erleuchteten Intellekts enthüllt.«

»Mit ganzem Herzen verehre ich meinen Meister, der die Furcht vor der Seelenwanderung zerstört. Mit dem Licht seines erleuchteten Intellekts hat er die Dunkelheit der Täuschungen vertrieben, in denen sich mein Verstand befand, und er hat für immer meine Angst vor dem Erscheinen und Verschwinden im schrecklichen Meer des samsara vernichtet. Wer zu seinen Füßen Zuflucht findet, kann die unfehlbare Erkenntnis der Upanischaden, Frieden und Demut verwirklichen.«
                                                                                      (Shankara)

OM OM OM

Gaudapada
Mandukyakarika
Jenseits von Sivas Tanz
Übersetzung aus dem Sanskrit und Kommentar von
Raphael

Lüchow, Freiburg i. Br. 2001
174 Seiten, Halbleinen, € 16,90

Titel zu beziehen über
Philosophia perennis e.V.