Rezensionen

Bhagavadgita
Gesang des Glückseligen

Auszüge der Buchbesprechung von M. Schwarz

TEIL 2

Die Pflicht eines Kriegers: verhaftungsloses Handeln
In Anbetracht deines dharma (Seinsweise) solltest du nicht zögern: Für einen Kshatriya gibt es nichts Besseres als einen rechtmäßigen Kampf. Glücklich sind die Kshatriya, denen sich auf spontane Weise eine solche Schlacht bietet als offenes Tor zum Himmel. (II, 31-32) Getötet wirst du den Himmel erlangen, als Sieger wirst du die Erde genießen. Steh also auf, oh Sohn der Kunti, um entschlossen zu kämpfen. Bereite dich also, gleichmütig in Freude und Schmerz, bei Gewinn und Verlust, bei Sieg und Niederlage, zum Kampf vor, so wirst du keinen Irrtum begehen können. (II, 37-38) Mach dich frei von den drei Eigenschaften und von den Gegensatzpaaren, oh Arjuna. Sei standhaft in Harmonie, frei von Besitzen und Bewahren, Herr deines wahren Selbst. (II, 45) Nur die Handlung betrifft dich, nie ihre Früchte. Sei nicht abhängig von der Frucht der Handlung, und du darfst nicht einmal an der Nicht-Handlung haften. Im Yoga konzentriert, führe die Handlung aus und verzichte auf die Verhaftung. Sei gleichmütig bei Erfolg und Misserfolg: Das vollkommene innere Gleichgewicht, das dadurch entsteht, nennt sich Yoga. (II, 47-48)

Oh Sohn der Kunti, die ungestümen Sinne reißen auch den Verstand des aufmerksamen Schülers mit sich fort, trotz der Anstrengungen vollkommen zu sein. Wenn er sie jedoch zu beherrschen gelernt hat, braucht er sich nur nach Mir zu richten, denn wenn die Sinne beherrscht werden, ist der Intellekt verfügbar. Wenn die Aufmerksamkeit auf die Sinnesobjekte gelenkt wird, entsteht Verhaftung. Aus der Verhaftung entspringt das Begehren und aus dem unbefriedigten Begehren die Gereiztheit. Die Gereiztheit führt zu Verwirrung, die Verwirrung zum Verlust des Gedächtnisses, der Verlust des Gedächtnisses zur Schwächung der Vernunft, und der Mensch ohne Vernunft rennt in sein Verderben. (II, 60-63)

Nicht durch die Weigerung zu handeln kann der Mensch die Freiheit vom Handeln erreichen, noch erlangt er durch das einfache Aufgeben aller Handlungen die Vollkommenheit des samadhi. Außerdem kann niemand, nicht einmal für einen Augenblick lang, verharren ohne zu handeln, da er durch die Eigenschaften (guna) der Natur (prakrti) unvermeidlich zum Handeln gedrängt wird. (III, 4-5)

Führe also die erforderliche Handlung aus, denn Handeln ist besser als Untätigkeit (d.h. Trägheit); ohne zu handeln könntest du nicht einmal deinen Körper am Leben erhalten. Abgesehen von der Handlung des Opfers (d.h. nicht bindendes Handeln) ist die Welt an Handlung gebunden; führe daher deine Handlung als Opfer aus, frei von Verhaftung. (III, 9-10) Die Anziehung und die Abneigung gegenüber den Objekten sind dem entsprechenden Sinnesorgan innewohnend: Diesen beiden möge sich niemand unterwerfen, denn sie sind die zwei Feinde. Besser ist die eigene Seinsweise (dharma), auch wenn sie unvollkommen erfüllt wrid, als die der anderen, auch wenn sie vollkommen erfüllt wird. Es ist besser in Erfüllung des eigenen dharma zu sterben, denn der eines anderen richtet Schaden an. (IV, 34-35)

Deshalb führe beständig die deinem dharma innewohnende Handlung aus, ohne Verhaftung, denn wahrlich, wer ohne Verhaftung handelt, erreicht das Höchste. (IV, 19)

Oh Partha, es gibt nichts in diesen drei Welten, das von Mir [Krishna] getan werden muss, und nichts, das Ich haben muss und das nicht gelöst worden ist; dennoch handle Ich. Denn wenn ich nicht unermüdlich am Handeln teilnehmen würde, oh Partha, würden die Menschen meinem Beispiel folgen. Und diese Welten würden verschwinden und Ich wäre die Ursache für die Vermischung der gesellschaftlichen Klassen und die Vernichtung der Geschöpfe. Wie die Unwissenden, oh Bharata, als Sklaven der Handlung handeln, so muss der Weise ohne Verhaftung handeln um die Welt zu erhalten. Der Weise darf keine Verwirrung im Verstand der unwissenden Sklaven der Handlung stiften. Derjenige, der erkennt, muss dafür sorgen, daß die Handlungen ausgeglichenen Geistes vollzogen werden. (IV, 22-26)

Der Weg zum Göttlichen
Wer keinerlei Lebewesen gegenüber feindselig ist, wer liebenswürdig und mitfühlend ist, wer frei von Egoismus ist, gleichmütig in Schmerz und Freude, duldsam, zufrieden, entschlossen, ausgeglichen, mit dem inneren Sinn (manas) und der unterscheidenden Erkenntnis (buddhi) auf Mich gerichtet, wer Mir ergeben ist, dieser Übende (Yogi) ist Mir lieb. Wer rein, bereit, ruhig, gelassen, nichts für sich selbst erwartet, wer auf jede Initiative verzichtet hat, wer Mir ergeben ist, der ist Mir lieb. Wer nicht jubelt und nicht haßt, sich nicht grämt, keine Erwartungen hegt, wer, voll Hingabe, auf die Frucht des Angenehmen und Unangenehmen verzichtet hat, genau der ist Mir lieb. Wer gleichmütig ist gegenüber Feind und Freund, Ehre und Schande, Kälte und Wärme, Freude und Schmerz, frei von jeder Verhaftung, wer unparteiisch ist gegenüber Tadel und Lob, wer, mit allem zufrieden, in Stille (mauna) lebt, wer, festen Verstandes, nicht an einen Wohnsitz gebunden ist [d.h. nicht an ihm haftet], wer Mir ergeben ist, der ist Mir lieb. (XII, 12-20)

Wenn das Licht der Erkenntnis alle Teile des Körpers erleuchtet, ist sattva vorherrschend. Die Gier, der Aktivismus, der Handlungsimpuls, die Rastlosigkeit, das brennende Begehren, all das taucht auf, wenn rajas vorherrscht. Die Finsternis, die Trägheit, die Nachlässigkeit, die mentale Verwirrung, all das taucht auf, wenn tamas vorherrscht. Wenn zum Zeitpunkt der Auflösung der Form sattva vorherrscht, geht der Mensch in die Welt der Reinen ein, welche die höchste Weisheit besitzen. Wenn zum Zeitpunkt der Auflösung der Form rajas vorherrschen, wird er unter denen wiedergeboren, die am Handeln haften. Wenn zum Zeitpunkt des Todes tamas vorherrscht, wird er unter denen wiedergeboren, die ohne Vernunft sind. (XIV, 11-15)

Diejenigen, die fest in sattva verankert sind, gehen nach oben; im Zwischenbereich ist der Sitz der durch rajas Beeinflussten; während die durch tamas Geprägten, die zur niedrigeren Eigenschaft gehören, in die unteren Bereiche eingehen. (XIV, 18)

Die Materialisten und der Weg der Zerstörung
Unerschrockenheit, Reinheit des Wesens, Festigkeit in Erkenntnis und Kontemplation, Barmherzigkeit, Selbstbeherrschung, Opfer, Studium der Schriften, Askese, Rechtschaffenheit, Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Befreiung von Zorn, Frieden, Abwesenheit von Bosheit, Mitgefühl mit allem, Abwesenheit von Begierden, Sanftheit, Bescheidenheit, Besonnenheit, Stärke, Vergebung, Geisteskraft, Abwesenheit von Stolz: All das gehört dem, der in göttliche Vollkommenheit geboren ist. Heuchelei, Arroganz, Eitelkeit, Zorn, Hartherzigkeit und Unwissenheit: All das gehört dem, der in einen dämonischen (asura) Zustand hineingeboren ist.

Die göttliche Vollkommenheit führt zur Befreiung und der dämonische Zustand gehört in die Knechtschaft. In dieser Welt gibt es zwei Kategorien von Wesen: daiva und asura; die daiva-Wesen wurden ausführlich beschrieben. Höre nun, oh Partha, über die asura.

Die asura-Wesen kennen weder den Weg der Handlung noch den des Handlungsverzichts, in ihnen ist weder Reinheit, richtiges Verhalten noch Wahrheit. Sie behaupten, daß das Universum ohne Wahrheit sei, ohne moralische Grundlage, ohne einen Herrn, ohne einen regulierten Kausalzusammenhang und verursacht durch Leidenschaft. Unbeirrt in dieser ihrer Art, zu sehen, kommen diese Unglückseligen, die verständnislos und voller Gewalt sind, auf die Welt, um sie zu zerstören. Indem sie sich einem unerfüllbaren leidenschaftlichen Begehren hingeben, bekennen sie sich voller Stolz, Heuchelei und Arroganz auf Grund von Unwissenheit zu schlechten Neigungen, sie handeln nach unreinen Beweggründen.

Maßlosen Unternehmungen ergeben, die nur mit dem Tod enden, verfolgen sie das Ziel durch Befriedigung der Leidenschaften, überzeugt, daß dies alles sei. In Sklaverei gehalten durch die tausend Fesseln des Begehrens, der Lust und dem Zorn ergeben, suchen sie mit unredlichen Mitteln nach Reichtum, bloß um ihre Begierden zu befriedigen. (XVI, 6-12)

Aufgewühlt durch die verschiedensten Gedanken, gefangen im Netz der Täuschung, damit beschäftigt ihre Begierden zu befriedigen, fallen sie in einen schmutzigen Abgrund. (XVI, 16) Sie, die Hasser, die Grausamen, die Schlimmsten unter den Menschen, geraten in der Aufeinanderfolge von Geburt und Tod immer tiefer in die Mutterschöße der Dämonen. In diesen Mutterschößen umnachtet sinken sie von Geburt zu Geburt und ohne Mich zu erlangen in den niedrigsten Lebenszustand hinab. (XVI, 19-20)

Advent des Göttlichen
Obgleich Ich das Nicht-Geborene und das unzerstörbare Selbst bin, obgleich Ich der Herr aller Geschöpfe bin, in meiner eigenen Natur verankert, trete Ich durch Meine Kraft der Erscheinung (maya) in die Existenz ein. Oh Bharata, jedes Mal, wenn das Gesetz (dharma) verfällt und die Zügellosigkeit (adharma) die Oberhand gewinnt, manifestiere Ich mich. Zum Schutz der Rechtschaffenen, zur Beseitigung der Niederträchtigen, zur Wiederherstellung des Gesetzes enthülle Ich mich von Zeit zu Zeit. Jeder, der die wahre Essenz Meiner göttlichen Geburt und Meines Werkes kennt, wird nicht mehr wiedergeboren, oh Arjuna, sondern kommt zu Mir. Frei von Leidenschaft, Furcht und Jähzorn, von Mir erfüllt, mit Mir als Zuflucht, durch das Feuer der Erkenntnis gereinigt, haben viele meinen Seinszustand (bhavam) erreicht. Wie die Menschen auf Mich zukommen, so komme Ich ihnen entgegen. Wohin sie sich auch wenden, stets folgen sie Meinem Pfad. (IV, 6-11)

Raphaels integrale Gita-Interpretation
Es bleibt festzuhalten, dass Hauer die kriegerische Ethik in ihrer religiösen Fundierung beschreibt und Evola den Schlüssel zum initiatischen Verständnis liefert. Die Detailanalysen, die in Krisnas Rede beschrieben werden, muss jeder in der Gita selbst aufsuchen. Diese werden aber nur in einer entsprechenden Übersetzung deutlich und praktikabel. Eine solche, verfasst von einem Yoga-Praktiker und Sprachverständigen, von Raphael (zu dessen Person wir im ersten Teil bereits das Nötige gesagt haben), liegt nun also auch in deutscher Sprache vor und ist der eigentliche Anlass dieses Aufsatzes.

Im ersten Teil wurde ebenfalls schon betont, dass die langen Erzählungen Krisnas nicht primär nebeneinander gestellte Wege betreffen, kein horizontales Panorama abschildern, sondern einen vertikalen Einweihungsweg darstellen, dessen wesentliche Aussagen wir bereits ausführlich zitiert haben.

Die Erkenntnis der »Struktur des universalen Prozesses«, der »Struktur des Wesens und seiner übersinnlichen Bewusstseinsstufen« und der »Wege, die zur ganzheitlichen Auflösung der quälenden Konflikte des Menschen führen können« ist Voraussetzung dafür, die effizienten Mittel zur Lösung des Problems in geeigneter Weise zu ergreifen (Raphael, S. 367). Das Erkennen des »universalen Prozesses« als maya (der raum-zeitlichen Täuschung oder Verschleierung) lässt noch die Möglichkeit einer Dualität zu, einer Dualität, die den Handelnden oder Nicht-Handelnden (die beiden Möglichkeiten schließen sich ja noch aus) zwangsläufig in Schuld verstrickt. Die Erkenntnis, dass die Dualität nicht im Einen existiert, also nicht wirklich ist, sondern nur im raum-zeitlichen Ich der Erscheinungen, löscht diese Dualität bzw. Getrenntheit auf der Erkenntnisebene bereits aus. In der Aktion, die der Dualität von Ursache (Handlung) und Wirkung (Frucht der Handlung) keinen Tribut mehr zollt, wird die Dualität auch in der Handlung überschritten, fällt aber mithin auch die Unterscheidung zwischen Handeln und Erkennen weg.

Einerseits hat Erkennen der Nicht-Dualität wirkliche (wirkende) Konsequenzen, wie sie das in der Erscheinungswelt befangene Erkennen sonst nicht hat, andererseits verliert das Handeln ohne Hinsicht auf die Frucht des Handelns den spezifisch praktischen Charakter und wird zu einer Form des Erkennens. Damit hebt der Erkennende/Handelnde die Differenz zu den Objekten ebenso auf, da er ihnen nicht mehr frontal entgegentritt, sondern zu einem ausführenden Werkzeug des Weltengrundes wird, von dem ihn nun ebenfalls nichts »Wesentliches« mehr unterscheidet.

In den Worten Raphaels: »Die Gita ist eine synthetische (keine synkretistische) Lehre, die von der Dunkelheit ans Licht, vom Sterblichen zum Leben, vom Werden zum Sein, von der avidya zum jnana, vom unbeständigen Relativen zum unbedingten Absoluten, vom Schein ins Sein führt.« (Raphael, S. 315)

Die Wege des Yoga, der »Anjochung« in Hauers Übersetzung, der "Vereinigung« in Raphaels Sprache, zu denen einzelne Abschnitte der Gita anleiten, dienen der Reinigung auf physischer, emotionaler und mentaler Ebene, die diesem letzten Schritt vorangehen muss. Ernährung, Atemübung, Meditation, Gedankenkontrolle, Sittenstrenge sind im Unterschied zur reinen Handlung kein Selbstzweck, sondern Wege zur Reinheit der Handlung. Daher sagt Raphael: »Der Mittelweg ist bei allen Dingen der beste Weg.« Nicht zu viel noch zu wenig Aufmerksamkeit soll den Mitteln gewidmet werden, gerade so viel, dass sie zum Ziel tragen. Dasselbe müsste auch von den okkulten Kräften gesagt werden, die sich auf dem Weg der Verwirklichung üblicherweise einstellen.

Wer Fakir, Zauberer, Vielwisser oder Moralist werden will, wird nicht das Ziel des haftungsfreien Handelns und der absichtslosen Erkenntnis erlangen, haftet er doch noch an seinen »tollen Leistungen", erkennt nicht, dass sie ebenso vom einzig Handelnden, hier Krisna genannt, bewirkt werden, wie die als negativ bewertenden Eigenschaften der Unerleuchteten. Darum darf die Erkenntnis nicht fehlen - und nicht überhand nehmen. Auch das Wissen ist kein Wert an sich. Gleichzeitig darf auch nicht das Vermeiden der Einseitigkeit selbst wieder zur Obsession werden.

Um diese schwierig scheinende Mitte zu finden, kann der Übende der Wege sein Vertrauen nicht in die eigenen Fähigkeiten setzen, sondern muss die Zuflucht in Krisna suchen. So endet die Gita: »Konzentriere deinen Verstand auf Mich, liebe Mich und verehre Mich, opfere Mir und so wirst du in Mich eingehen, und Ich werde dir die Wahrheit verkünden, [denn] du bist mir lieb. Leg deine Pflichten (dharma) beiseite, komm zu Mir, der einzigen Zuflucht, Ich werde dich von allen Übeln befreien, höre also auf, traurig zu sein.« (XVIII, 65f.; Raphael, S. 358)

Diese fürsorgliche Zuwendung Krisnas – man könnte dies den Vishnu-Aspekt nennen – dementiert nicht die Aufforderung an Arjuna, seine Pflicht als Krieger zu erfüllen. Nein, im Gegenteil! Indem der Kshatriya sich Krisna ergibt und die Erfüllung der Kriegerpflichten Ihm überlässt, wird Arjuna seine Handlungen in perfekter Form, aber ohne persönlicher Beteiligung, ausführen!

zurück zu Teil 1